Rundschau: Am 21. September 1991 hat die Alte Feuerwache zum ersten Mal ihre Türen geöffnet und ihre Arbeit aufgenommen. Was hat sich in den Jahren verändert?
Joachim Heiß: Die Zahl der Auffälligkeiten bei Kindern hat extrem zugenommen. Sehr viele zeigen physische oder psychische Stressbelastungen, kommen mit Kopf- oder Magenschmerzen zu uns, zeigen hohe Depressionswerte, sind aggressiv und frustriert. Den Stress und die Konflikte, die sie zu Hause oder in der Schule haben, bringen sie mit zu uns.
Jana-Sophia Ihle: Bei vielen mangelt es schon an der Basisversorgung. Kein angemessenes Essen, keine vernünftige Kleidung – manche laufen im Winter in Sandalen herum. Andere streunen nach 22 Uhr noch hier über die Gathe. All das ist heute nicht mehr die Ausnahme, sondern Alltag.
Heiß: Die Armut hat ganz drastisch zugenommen!
Rundschau: Wo setzen Sie da an?
Ihle: Wir helfen erst mal mit dem Nötigsten. Wir haben hier eine Kleiderkammer, einen Schlafraum und einen Mittagstisch, um die Basisversorgung der Kinder zu gewährleisten. Ausgerichtet ist er für 40 Kinder, aber wir versorgen um die 70. Die Warteliste ist lang und finanzielle Unterstützung gibt es keine. Eigentlich skandalös. Denn viele Eltern haben nicht mal Geld, um ihren Kindern ein Mittagessen zu ermöglichen.
Heiß: Darüber hinaus suchen wir natürlich auch den Kontakt zu den Eltern. Viele haben schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht, da muss man Vertrauen schaffen, ihnen Ängste nehmen und auch Wertschätzung entgegenbringen. Es ist oft ein wahnsinniger Eiertanz, den Eltern, den Kindern und auch den Paragrafen gerecht zu werden.
Rundschau: Wie viele Kinder betreuen Sie?
Heiß: Durch unseren offenen Kinder- und Jugendbereich und die verschiedenen Angebote sind täglich zwischen 215 und 300 Leute im Haus. Intensiv betreuen wir momentan über 40 Kinder, zum Beispiel in den 8samkeitsgruppen. Unser Team besteht aus 14 hauptamtlich Beschäftigten und zahllosen Ehrenamtlern.
Rundschau: Was genau sind die 8samkeitsgruppen?
Heiß: Die Gruppen bieten einen familienähnlichen Rahmen für je acht hochbelastete Kinder mit einer festen Bezugsperson – mit pädagogischer Fachausbildung –, die die Kinder in allen relevanten Lebens- und Entwicklungsbereichen unterstützt. Sie kooperiert eng mit Schulen und Eltern, trainiert angemessenes Konfliktverhalten, fördert besondere Interessen und Begabungen und unterstützt beim angemessen Umgang mit Stressbelastungen.
Rundschau: Sie betreuen auch Flüchtlingskinder?
Ihle: Ja. Es war immer Ziel der Feuerwache, Menschen unterschiedlicher Nationalität bei uns zusammenzubringen. Unsere Arbeit ist immer auch anti-rassistisch. Wir arbeiten dabei mit einer Trauma-Pädagogin, einer Familientherapeutin und einem Deeskalationstrainer zusammen und haben auch viel Zulauf. Diese Kinder haben schon viel erlebt. Wenn sie Bilder von untergehenden Booten oder Kriegsszenen malen, bekommt man eine Ahnung davon.
Rundschau: Ist das die Gruppe, die die meiste Zuwendung benötigt?
Ihle: Die ärmste Gruppe sind osteuropäische Einwanderer, die keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Sie leben tatsächlich oft von der Hand in den Mund, haben keine Heizung. Denen geht es noch mal zwei Stufen schlechter als anderen.
Rundschau: Es klingt, als sei die Alte Feuerwache ein Mikrokosmos aller gesellschaftlichen Probleme. Haben Sie überhaupt genug Kapazität, sich um alle Kinder aus dem Quartier zu kümmern?
Heiß: Nein, wir bräuchten sehr viel mehr Mitarbeiter, um dem gerecht zu werden. Aber die Stadt hat den Zuschuss seit Jahren gedeckelt. Ohne Hilfe von Sponsoren sähen wir alt aus. Und die Schere geht immer weiter auseinander ...
Ihle: Es ist nicht nur eine Frage von Mitleid oder Gerechtigkeit – unsere Gesellschaft kann es sich schlicht nicht erlauben, alle diese Kinder zurückzulassen. Wie wollen Sie diese zurückgelassene Generation später dazu bringen, die Gesellschaft mitzutragen und nach vorn zu bringen?
Sie bekommen dazu sicher keinen Widerspruch aus der Politik ...
Heiß: Nein, das ist schon allen klar. Aber aus dem Wissen folgt keine Handlung. Sprich: Wir bekommen nicht mehr finanzielle Unterstützung. Die Frage ist: Was sind uns unsere Kinder wert?
Rundschau: Was sind die Pläne für die nächsten Jahre?
Ihle: Um eine möglichst lückenlose Begleitung zu erreichen, möchten wir einen Kindergarten eröffnen. Auf dem Gelände am Mirker Bahnhof planen wir ein Leuchtturmprojekt: Kinder aus sozial schwachen Familien sollen dort die bestmögliche Bildung erhalten. Denn je früher wir diese Kinder abholen, um so besser. Dort könnte Wuppertal beweisen, dass es etwas anders macht – das ist Prävention at it's best!
Heiß: Man muss das auch mal wirtschaftlich sehen. Solche Präventionsprojekte kosten einen Bruchteil von dem, was Bund, Land und Kommunen zahlen müssen, wenn wir solche Kinder zurücklassen.
Ihle: Wuppertal will ja das Image von der "armen Stadt" abstreifen. Aber man muss die Dinge klar benennen und handeln, dann kann es zu einer Stärke werden – und durchaus Modellcharakter für andere Städte haben.
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